Steffi Lemke: "Radikale Kräfte versuchen, diese Proteste in ihrem Sinne zu instrumentalisieren"

16.01.2024
Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke
Im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten spricht Bundesumweltministerin Steffi Lemke über die aktuelle Entwicklungen der Landwirtschaft und Umweltschutz.

Suttgarter Zeitung: Frau Lemke, Sie sind Diplom-Agraringenieurin...

Bundesumweltministerin Steffi Lemke: ...und übrigens auch gelernte Melkerin…

...können Sie vor diesem Hintergrund die aktuellen Proteste der Landwirte nachvollziehen?

Dass Bauern die Regierung kritisieren, ist in einem demokratischen Rechtsstaat völlig legitim. Es steht mir überhaupt nicht zu, das in Frage zu stellen. Die Regierung hat ihre ursprüngliche Entscheidung, die Subventionen zu kürzen, korrigiert, weil das zu tiefe Einschnitte bedeutet hätte. Aber bei den Protesten geht es längst nicht mehr um den Agrardiesel, sondern um grundsätzliche Probleme, unter denen die deutsche Landwirtschaft leidet. Viele davon sind über Jahrzehnte verschleppt worden. Es ist an der Zeit, sie endlich anzugehen.

Die Interessen von Umweltschutz und Landwirtschaft kommen sich oft in die Quere. Ist den Landwirten womöglich in den vergangenen Jahren zu viel zugemutet worden?

Landwirtschaft und Umwelt sind doch zwei Seiten derselben Medaille, die Bauern sind auf eine intakte Natur und wir auf gut wirtschaftende Höfe angewiesen. Aber die Agrarpolitik hat über Jahrzehnte falsche Anreize gesetzt: Masse wurde belohnt, nicht Qualität. Die Boden- und Pachtpreise sind für viele Landwirte inzwischen zu hoch. Das setzt Landwirte wirtschaftlich unter Druck, und viele haben zudem das Gefühl, ständig kritisiert zu werden: Ihr müsst weniger Pestizide einsetzen, ihr sollt weniger düngen, ihr müsst besser aufs Wasser achten. Da ist ja überall was dran. Aber es funktioniert nur, wenn wir die Bauern mitnehmen und sie für ihre Produkte anständige Preise bekommen.

Das könnte bedeuten, dass die Lebensmittelpreise noch weiter steigen.

Viele Verbraucher wären vielleicht sogar bereit, für manche Produkte etwas mehr zu bezahlen, wenn dies den Bauern und einer umwelt- und tierfreundlicheren Produktion zugute käme. Entscheidend aber ist, dass die Bauern von ihren Abnehmern und dem Handel faire Preise bekommen und dass die Bodenpreise nicht weiter in die Höhe getrieben werden. Derzeit haben die Landwirte kaum Einfluss auf die Preisgestaltung. Hier braucht es ein Verhandlungsgleichgewicht. Wir müssen zudem die Agrarpolitik so weiterentwickeln, dass die Landwirtschaft für die gesellschaftlichen Leistungen, vor allem den Umweltschutz – ausreichend honoriert wird. Auch eine Stärkung von regionalen Wertschöpfungsketten und Direktvermarktung kann dazu beitragen.

Das Landwirtschaftsministerium wurde lange von der Union geführt. Aber tragen die Grünen nicht auch eine Mitverantwortung für die aktuellen Probleme in der Landwirtschaft? Es sind nun mal oft Grünen-Anliegen, die den Bauern ihre Arbeit erschweren.

Ich würde nie sagen, dass die Grünen keine Mitverantwortung auch für Probleme tragen. Die Proteste richten sich ja gegen die Regierung, der wir angehören. Aber es wäre aus meiner Sicht zu kurz gegriffen zu sagen, dass Umwelt- und Naturschutz ein grünes Anliegen ist. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist in unserer Verfassung verankert. Eine intakte Natur dient uns allen, das geht alle demokratischen Parteien an. Ich nehme aber auch wahr, dass reaktionäre Kräfte versuchen, das in Frage zu stellen.

Wie meinen Sie das?

Ich beobachte, dass reaktionäre und rechtsextreme Kräfte dabei sind, den Umwelt- und Naturschutz massiv zu instrumentalisieren. Diese Entwicklung macht mir große Sorgen. Aber es kann nicht allein Aufgabe der Grünen sein, sich dagegen zu wehren. Was wir erleben, ist ein Angriff auf die Grundlagen unseres Staates, auf die Demokratie, auf die Freiheit, auf die Verfassung. Dies zu verteidigen, muss Aufgabe aller demokratischen Kräfte in unserem Land sein.

Machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie den Unmut der Bauern den Rechtsradikalen zuschieben?

Ich schiebe niemandem etwas zu, ich habe ja klar gesagt: Die Bauern protestieren wegen Problemen, die auch politisch gemacht sind – und natürlich tragen wir politische Verantwortung in unserem Land. Aber ich glaube, dass wir uns tiefer anschauen müssen, was sich gegenwärtig vollzieht. Ich stelle die Proteste nicht in die rechtsextreme Ecke. Es geht darum, dass radikale Kräfte versuchen, diese Proteste in ihrem Sinne zu instrumentalisieren – wie es zum Beispiel auch bei Corona- oder Handwerkerdemonstrationen passiert ist. Dafür können die Bauern im Prinzip nichts. Aber sie müssen mitarbeiten, Instrumentalisierung zu verhindern. Daher ist gut, dass sich der Deutsche Bauernverband und viele Landesverbände sehr deutlich von Gewalt und rechten Gruppen distanziert haben.

Wie beunruhigt sind Sie über die hohen Umfragewerte der AfD?

Ich möchte vor allem betonen, dass die AfD kein ostdeutsches Problem ist. Schauen Sie nach Hessen. Dort hat die AfD 18 Prozent erreicht. Es war jahrelang bequem zu sagen: Wir haben im Osten ein Problem mit der AfD oder mit Rechtsextremen. Es ist aber ein gesamtgesellschaftliches Problem, und deshalb muss es auch gemeinsam gelöst werden. Denn es geht um eine ernsthafte Bedrohung unseres Staates. Vor drei Jahren haben Radikale in den USA das Kapitol gestürmt. Das zeigt: Wenn Politiker gezielt Umsturzfantasien schüren, wird auch versucht, sie umzusetzen.

Sie kommen selbst aus Ostdeutschland und waren mehr als zehn Jahre Politische Geschäftsführerin der Grünen. Bei den kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland müssen die Grünen teilweise fürchten, ihren Einzug ins Parlament zu verpassen. Warum hat Ihre Partei es nicht geschafft, sich zu etablieren?

Wir standen als Partei immer dafür, notwendige Veränderungen anzupacken, sich nicht wegzuducken. Dafür haben wir uns auch in den neuen Bundesländern eingesetzt, in einer Situation, die von massiven Umbrüchen geprägt war. Die Menschen mussten Einiges an Zumutungen hinnehmen. Ich finde es verständlich, dass viele das Gefühl haben: Ich brauche nicht noch mehr Veränderung. Da haben wir mit unserem Programm sicher viele vor den Kopf gestoßen.

Was können Sie den Ostdeutschen dann bieten?

Ich stehe dafür, dass wir uns auf das Lösen der Probleme konzentrieren, pragmatisch, aber eben ohne den Kopf in den Sand zu stecken. Wir sollten politisches Schattenboxen endlich mal sein lassen. Die globalen Probleme können leider nicht warten. Wir leben in einer Zeit massiver Krisen, ob es die Klimakrise, das Artenaussterben oder Kriege sind. Das müssen alle Parteien anerkennen, nicht nur die Grünen. Alle sind gemeinsam in der Verantwortung. In dem Moment, in dem man nicht die Augen davor verschließt, wird es auch möglich, Lösungen zu finden.

Glauben Sie, dass diese Vielzahl an Krisen der Grund ist, dass sich der Zeitgeist in den vergangenen Jahren verändert hat – von rot-grün zurück zu konservativ?

Mit dem Begriff Zeitgeist kann ich nichts anfangen. Ich nehme wahr, dass die Veränderungsbereitschaft generell abnimmt. Und das ist ja durchaus nachvollziehbar. Problematisch wird es erst, wenn reaktionäre Kräfte das ausnutzen oder versuchen, daraus politisches Kapital zu schlagen.

Viele Menschen fühlen sich gerade von den Grünen offenbar unverstanden – zum Beispiel beim Thema Wolf. Weidetierhalter leiden darunter, dass ihre Tiere gerissen werden. Wenn die Grünen sich dann für den Wolfsschutz einsetzen, entsteht der Eindruck: Den Grünen ist der Wolf wichtiger als der Mensch.

Das stimmt aber nicht. Ich selbst habe die Initiative ergriffen, damit Wölfe schneller geschossen werden können, um den Weidetierhaltern konkret zu helfen. Dazu habe ich einen praxisorientierten Vorschlag gemacht, der auf der Umweltministerkonferenz, von Ministern unterschiedlicher Parteien, einstimmig beschlossen wurde. Die Diskussion um den Wolf ist aber auch ein gutes Beispiel für das, was ich gerade angesprochen habe: Die AfD instrumentalisiert dieses Thema seit langem intensiv für sich, gerade weil es so emotional ist. Sie nutzt es, um die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen, statt nach Lösungen zu suchen.

Unterstützen Sie das Vorhaben der EU-Kommission, den Schutzstatus des Wolfes europaweit abzusenken, sodass auch Nicht-Problemwölfe geschossen werden können?

Ich bin dafür, dass wir beim Wolf pragmatische Lösungen finden, die den Weidetierhaltern jetzt schnell und unbürokratisch helfen. Wir werden uns den Vorschlag von Ursula von der Leyen zur Novelle der Berner Konvention, also einer völkerrechtlichen Übereinkunft, genau anschauen. Was ich nicht möchte, ist eine jahrelange Diskussion über das ganze europäische Naturschutzrecht, denn damit ist den Weidetierhaltern eben nicht geholfen. Und das wäre angesichts des globalen Naturschutzabkommens, dass die EU 2022 in Montreal mit beschlossen hat, auch nicht nachvollziehbar.

Übergriffe – vor allem auf Grünen-Politiker – haben zugenommen. Bereitet Ihnen das mit Blick auf die kommenden Wahlkämpfe Sorgen?

Mich beunruhigen Angriffe auf demokratische Politiker, egal welcher Partei sie angehören. Gewalt hat in der politischen Auseinandersetzung nichts zu suchen. Mich hat die friedliche und gewaltfreie Revolution von 1989 zutiefst geprägt und das wird mich auch bis an mein Lebensende begleiten.

Haben Sie selbst schon Gewalt gegen Sie als Politikerin erlebt?

Solche Erfahrungen habe ich zum Glück noch nicht gemacht. Natürlich habe ich als Ministerin Demonstrationen erlebt oder wie zuletzt, als ich mit dem Bundeskanzler in den Hochwassergebieten war, Rufe, die sich gegen mich persönlich richteten. Aber das ist etwas Anderes als Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Wenn sich die aktuellen Umfrageergebnisse in Brandenburg, Sachsen und Thüringen bewahrheiten, würde das ein politisches Erbeben auslösen.

Glauben Sie, die Ampel wird das überleben?

Wir wissen, dass es in den Ländern zu sehr schwierigen politischen Konstellationen kommen kann. Die Aufgabe für die nächsten neun Monate besteht für alle demokratischen Parteien darin, zu verhindern, dass ein Bundesland quasi regierungsunfähig wird.

Sie finanzieren mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz die Wiedervernässung von Mooren bis 2027. Das ist aber eine Aufgabe für Jahrzehnte. Wie wollen Sie Landwirte dafür gewinnen, wenn sie nur so kurzfristig Hilfe anbieten?

Ich arbeite daran, das Aktionsprogramm zu verstetigen, damit wir es auch nach 2027 weiterführen können. Es stimmt, dass es bis zu einer klimaverträglichen nachhaltigen Bewirtschaftung der wiedervernässten Moorböden sicher Jahrzehnte dauern wird. Das Aktionsprogramm wird hier nur der Anfang sein. So ist dies auch in der Nationalen Moorschutzstrategie vereinbart. Die einzelnen Fördermaßnahmen sind daher auf eine dauerhafte Umstellung der Bewirtschaftung ausgerichtet.

Gleichzeitig werden Waldflächen für Solar- oder Windkraftanlagen gerodet. Haben Sie das Gefühl, dass Naturschutz zu kurz kommt in der Energiewende?

Jede menschliche Nutzung wirkt sich auf Umwelt und Natur aus, teilweise schädlicher als bei Wind- oder Solaranlagen. Solche Konflikte werden aber fast ausschließlich in Bezug auf erneuerbare Energien diskutiert und nur selten bei Fragen industrieller Produktion. Wir müssen dieses Spannungsfeld bei allen wirtschaftlichen Nutzungen ausbalancieren, etwa beim Siedlungs- oder Autobahnbau, nicht nur bei den erneuerbaren Energien. Um die Konflikte deutlich zu reduzieren, brauchen wir eine kluge Planung.

Die Ampel hat beschlossen, solche Infrastrukturprojekte zu beschleunigen. Im Gegenzug wurde ein Naturflächengesetz versprochen, mit dem der Flächenverbrauch ausgeglichen wird. Wann kommt es?

Das ist wirklich ein großes Vorhaben und auf Bundesebene Neuland, weil wir als Bund bisher keinen Zugriff auf Flächen haben. Insofern sind hier noch viele Fragen zu klären, sowohl mit den Ländern als auch innerhalb der Bundesregierung.

Die EU hat eine Richtlinie für Recht auf Reparatur verabschiedet. Wann wollen Sie die umsetzen in Deutschland?

Die Verhandlungen zur Richtlinie in der EU dauern noch an. Ich werde aber parallel noch in diesem Jahr ein nationales Reparaturgesetz vorlegen. Damit will ich den nötigen Rahmen schaffen, um Reparaturen von Alltagsprodukten, die nicht unter den Anwendungsbereich der EU-Richtlinie fallen werden, zu ermöglichen und zu erleichtern und so Ressourcen schonen.

In Frankreich fördert der Staat Reparaturen mit bis zu 25 Euro, etwa für Textilreparaturen. Ist sowas geplant?

Die Unterstützung von Reparaturen durch Reparaturboni gibt es in Deutschland bereits in einigen Bundesländern. Beispielsweise ist der Reparaturbonus in Thüringen eine sehr erfolgreiche Initiative. Für die Stärkung des Rechts auf Reparatur sind im kommenden Bundeshaushaushalt 2024 nach heutigem Stand Fördermittel von insgesamt 5 Millionen Euro eingeplant. Damit will ich Reparatur-Initiativen wie Repair-Cafés, Selbsthilfewerkstätten und andere ehrenamtliche Initiativen im Land fördern. Die bundesweite Einführung eines Reparaturbonus wie in Frankreich oder Österreich planen wir in Deutschland nicht. Eine solche Förderung ist insbesondere im aktuellen Haushalt nachvollziehbarerweise nicht abbildbar.

Das Gespräch führten Igor Steinle und Rebekka Wiese.

© Suttgarter Zeitung

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16.01.2024 | Medienbeitrag Naturschutz
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