Frankfurter Rundschau: Frau Lemke, in diesen Tagen soll die Entscheidung der EU zur Einstufung von Atomkraft und Gas als nachhaltige Energieformen fallen. Was wird die deutsche Regierung tun, wenn die EU Atomkraft als nachhaltig erklärt?
Steffi Lemke: Entscheidend ist, dass sich die Bundesregierung geschlossen und klar gegen die Aufnahme von Atomkraft in die Taxonomie ausgesprochen hat. Das gilt auch für den langfristigen Einsatz von Erdgas. Das sehen auch eine Reihe anderer EU-Staaten so. Jetzt warten wir ab, wie die Kommission darauf reagiert. Dann entscheiden wir über das weitere Vorgehen.
Die Mehrheitsmeinung in der EU ist gegen die deutsche Haltung. Welche Handhabe hat die Bundesregierung gegen die Entscheidung der EU?
So eindeutig ist das Meinungsbild in der EU keineswegs. Im Europäischen Parlament wächst der Unmut über die Vorgehensweise der EU-Kommission zusehends. Gerade haben die wichtigsten EU-ExpertInnen für nachhaltige Finanzen die Vorschläge der Kommission rundweg abgelehnt. Das ist ein Rückschlag für die Kommission. Banken, Versicherungen und Finanzfachleute sprechen sich ebenso dagegen aus. Wir sind also in einer wesentlich intensiveren Debatte als viele erwartet hatten. Ich hoffe daher sehr, dass die Kommission sich jetzt genügend Zeit nimmt, alle Stellungnahmen ausreichend zu prüfen. Die EU-Kommission muss in ihre Entscheidung zudem einbeziehen, dass einige EU-Staaten gegen die Entscheidung, Atomkraft und Erdgas als nachhaltig zu deklarieren, vor Gericht ziehen werden. Das letzte Wort ist daher noch nicht gesprochen.
Die Bundesregierung kennzeichnet in der Stellungnahme Erdgas als Übergangslösung. Da war sie nicht klar ...
Unsere Position ist abgewogen: Erdgas brauchen wir übergangsweise - so lange bis wir die Energieversorgung vollständig auf Sonne und Windkraft umgestellt haben. Übergangstechnologien sind also wichtig für unsere Energiesicherheit. Damit sind sie aber noch lange nicht nachhaltig. Das sieht die Kommission leider anders und schwächt damit die Taxonomie – unser wirksamstes Mittel gegen Greenwashing – erheblich ab.
In den Flutgebieten in Rheinland-Pfalz und NRW werden die zerstörten Häuser wiederaufgebaut. Wäre es nicht besser, vorher den Hochwasserschutz sicherzustellen?
Diese Katastrophe mit mehr als 180 Todesopfern und Schäden in Milliardenhöhe war so gravierend, dass Bund und Länder derzeit gemeinsam eine Strategie für die Zukunft entwickeln. Wir wollen verstärkt in Vorsorge- und Anpassungsmaßnahmen investieren und die regionalen Besonderheiten berücksichtigen. In engen Flusstälern können das zum Beispiel Rückhaltebecken oder Zisternen sein. Genauso wollen wir den natürlichen Rückhalt im Einzugsgebiet oberhalb der Flusstäler sichern. Zugleich müssen unsere Prognosen besser werden. BürgermeisterInnen und LandrätInnen brauchen genauere Daten über mögliche Starkregenereignisse. Auch den Hochwasser- und Katastrophenschutz müssen Bund und Länder enger miteinander verzahnen.
Nach der Flut gab es scharfe Kritik, es sei nicht rechtzeitig gewarnt worden. Wie lassen sich Überschwemmungen denn besser prognostizieren?
Wettervorhervorsagen sind bereits ein sehr ausgereiftes System, und es hat ja Warnungen gegeben. Was aber fehlte, waren zusätzliche genaue Prognosen, wie sich welche Regenmengen in einem bestimmten Flusstal verhalten. Kommunen sollen am Ende Starkregenhinweiskarten und darauf aufbauende Gefahrenkarten haben, die Fachleute mit ihnen und den Ländern gemeinsam ausarbeiten. Klar ist aber auch, auch mit den besten Daten, werden wir Katastrophen nicht komplett verhindern können.
Und dann sollen auch Maßnahmen greifen, wenn eine bestimmte Stufe erreicht ist?
Wenn wir die Klimaanpassungsstrategie erneuert und das geplante Klimaanpassungsgesetz verabschiedet haben, dann können wir alle, die sich in Deutschland für Klimavorsorge einsetzen, noch besser unterstützen. Mit dem Gesetz rechne ich 2023.
Die Koalition hat sich vorgenommen, jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen zu schaffen – wie passt das mit Umweltschutz und der Zurückhaltung bei Flächenversiegelung zusammen?
Die Flächenversiegelung werden wir verringern. Dazu hat sich die gesamte Bundesregierung verpflichtet. Wir benötigen aber auch mehr Wohnungsbau, vor allem sozialen Wohnungsbau. Der lässt sich auch naturverträglich und flächensparend gestalten.
Wie genau?
Erstens gibt es gute Alternativen zum Neubau, beispielsweise die Bestandsentwicklung sowie bessere Nutzungskonzepte für leerstehende Wohn- und Gewerbebauten und brachliegende Flächen. Zweitens muss die innerörtliche Entwicklung Vorrang haben vor neuer Flächenversiegelung im Außenbereich. Das fördert lebenswerte Innenstädte und hilft der biologischen Vielfalt. Besonders sensible Gebiete können auch ganz aus der Bebauung herausgenommen werden. Zudem geht es beim Wohnungs- und Städtebau um Durchlüftung, begrünte Fassaden und Dächer und das Schwammstadt-Konzept, also mehr Durchlässigkeit von Wasser in den Städten abseits von Siedlungen. Beim Flächenschutz ist es entscheidend, in Renaturierungsmaßnahmen zu investieren. So kann in Auen, Deichen und Mooren im Sinne des Hochwasser-, Arten- und Klimaschutzes besser Wasser gespeichert und Kohlenstoff gebunden werden. Es ist höchste Zeit, dass wir nicht mehr gegen die Natur arbeiten, sondern die vorhandenen Synergien zwischen Klima- und Naturschutz nutzen.
Mehr als 90 Prozent der Moore in Deutschland sind trockengelegt. Wie viel Prozent davon sollen renaturiert werden?
Unser Anspruch ist es, bis zum Jahr 2030 die jährlichen Treibhausgasemissionen aus Mooren um mindestens fünf Millionen Tonnen zu senken. Mir geht es aber nicht darum, nur bessere Zielvorgaben zu diskutieren. Ich will, dass wir schnell in die Umsetzung kommen. Wir haben vor kurzem vier langfristige Modellprojekte gestartet, die uns zeigen werden, wie wir auf dem Weg einer klimaverträglichen Bewirtschaftung von wiedervernässten Moorböden vorankommen können.
Für die Renaturierung von Mooren müssen Sie jedoch auf landwirtschaftliche Flächen zurückgreifen. Das wird manchen Landwirten nicht gefallen.
Zur Umsetzung der Maßnahmen auf Moorböden werden wir ein Set von Fördermaßnahmen anbieten, was den unterschiedlichen Anforderungen der Landwirte und den regionalen Besonderheiten Rechnung trägt und gleichzeitig neue wirtschaftliche Perspektiven schafft. Trotzdem wird die Umsetzung alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen stellen. Hier brauchen wir ein Umdenken auf breiter Basis. Es gab leider über zu viele Jahre ein ökonomisches Anreizsystem, das intensiven Ackerbau belohnt hat und extensive Moorbewirtschaftung nicht. Das war schlecht fürs Klima und den Moorschutz. So können wir nicht mehr wirtschaften und daher setze ich mich für eine Neuausrichtung der Förderinstrumente in der Landwirtschaft ein.
In der Vergangenheit haben sich das Bundesumwelt- und Agrarministerium in diesem Thema verhakt. Ist das nun ausgeschlossen, weil mit Cem Özdemir ein Grüner das Landwirtschaftsressort führt?
Zwischen dem Bundesumwelt- und dem Agrarministerium werden weiter bestimmte Punkte diskutiert werden. Der Unterschied ist, dass am Ende Lösungen stehen werden: wir wollen dabei beide gemeinsam etwas für die Natur und die Landwirte voranbringen – das destruktive Gegeneinander der letzten Jahre darf es nicht mehr geben. Dafür haben wir keine Zeit mehr.
Die Windkraft soll massiv ausgebaut werden. Wie wollen Sie den Artenschutz gewährleisten?
Der Blick sollte nicht bloß in Richtung Windkraft gehen. Der Ausbau von Windkraft ist nicht das Hauptproblem des Arten- und Naturschutzes. Ein ganz wesentlicher Treiber für den Artenverlust sind die agrarpolitischen Rahmenbedingungen, die auf intensive Landwirtschaft mit hohem Stickstoff- und Pestizideinsatz setzen. Für den Artenschutz müssen wir deshalb hier ansetzten und zusätzlich vor allem Böden, Auen und Moore renaturieren. Bei der Windkraft ist die Auswahl der Flächen ganz entscheidend. Werden Standorte klug ausgewählt und Artenschutzbelange frühzeitig berücksichtigt, lassen sich viele Konflikte von vornherein vermeiden.