Kanzelrede von Steffi Lemke in der Stadtkirche St. Marien zu Wittenberg

04.06.2023
Bundesministerin Steffi Lemke
Bundesumweltministerin Steffi Lemke hat eine Rede beim Gottesdienst der Evangelischen Akademie zum Thema "Verantwortung für die Schöpfung – Gestalten in Zeiten von Krisen" gehalten.

"Sehnsucht nach Obrigkeit – Verantwortung für die Schöpfung. Gestalten in Zeiten von Krisen"

– Es gilt das gesprochene Wort. –

Ich hatte es heute Morgen nicht weit, von Dessau nach Wittenberg. Von Dessau, wo ich lebe und wo ich großgeworden bin. Das ist meine Heimat, die mich zutiefst geprägt hat, sowohl als Mensch, als auch als Politikerin. Viele von Ihnen kennen sicherlich die Mulde, die Elbe sowieso hier in Wittenberg. Flüsse, die, als ich Kind und Jugendliche war, auf das Schwerste chemisch verseucht waren. Mit teilweise meterhohen Schaumkronen auf diesem Fluss. Diese Bilder haben mich geprägt. Sie haben dazu geführt, dass ich mich 1988/89 der DDR-Umweltbewegung angeschlossen habe, um gegen diese Missstände einzutreten. Deshalb ist das Motto meiner heutigen Rede: "Sehnsucht nach Obrigkeit" – das ist ja Ihr Leitthema der Gesprächsreihe in diesem Jahr – "Bewahrung der Schöpfung. Gestalten in Zeiten von Krisen".

Bewahrung der Schöpfung – wer könnte schon dagegen sein! All dieses wunderbare, überraschende, grandios anmutende, manchmal auch gefährliche der Natur – das nicht bewahren zu wollen, damit man es selber genießen kann, nutznießen kann – das zu bewahren, da kann eigentlich niemand dagegen sein. Dennoch führen wir einen Lebensstil, der eigentlich drei dieser Schöpfungen erfordern würde. Das heißt, die Ressourcen, die wir nutzen, würden eigentlich drei Planeten erfordern.

Die DDR war nach eigenem Bekunden eine der zehn führenden Industrienationen der Welt. Der damit verbundene Fortschritt sollte den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen. Ich denke, das hat auch an vielen Stellen funktioniert. Ich erinnere mich zumindest, wie meine Mutter von ihrer ersten Neubauwohnung, in einem Plattenbau, regelrecht geschwärmt hat, mit den hellen, großen Fenstern, fließend Warmwasser und Fernheizung – das war für sie Fortschritt. Aber wir wissen, dass auch in der DDR der Raubbau an der Natur, an der Schöpfung, zu so schlimmen, gravierenden Umweltfolgen geführt hat, dass wir auch damals dabei waren, die Erde zu übernutzen und die Natur zu zerstören. Mich hat deshalb die Friedliche Revolution 1989 letzten Endes in die Politik geführt. Ich bin ohne Kirche und Glauben an Gott aufgewachsen und erzogen worden. Aber die Liebe zur Natur, das Bewahren der Schöpfung, ist für mich ein sehr verbindendes Element.

Zu Martin Luthers Zeiten galten die Herrscher als von Gott eingesetzt. Gottgegeben sozusagen. Eine solche Obrigkeit lässt sich nicht oder nur schwer in Frage stellen. Das wäre vermutlich heute ein Konzept für Politiker, die sich nicht erklären wollen, die sich nicht kritisieren lassen wollen, die ihre Vorschläge nicht zur Disposition, nicht zur öffentlichen Diskussion stellen und geben wollen. Ich bin sicher, dass alle jemanden vor Augen haben, dem sie ein solches Denken, ein solches Herrschen zutrauen würden, wenn wir uns auf unserem Planeten umschauen.

Obrigkeit gibt es aber nur, wenn es auch Untertanen gibt. Zu Luthers Zeit waren Menschen Untertanen, weil sie Leibeigene waren, weil sie häufig weder lesen, noch schreiben konnten. Das waren Menschen, die im Wortsinne Macht-los waren. Das ist heute definitiv anders. Als Politikerin weiß ich selbstverständlich, dass sich Menschen auch heute manchmal machtlos fühlen, dass sie das Gefühl haben, nicht gehört zu werden, mit ihren Anliegen nicht wahrgenommen zu werden, dass sie zu wenig selbst beeinflussen können. Aber dennoch ist heute in unserem Land und in unserer Demokratie niemand mehr Untertan, niemand ist den Entscheidungen der Politik machtlos ausgeliefert und muss sich denen unterwerfen. Wir alle haben Rechte als Bürgerinnen und Bürger und wir haben diese Rechte auch insbesondere gegen die Regierenden.

Die DDR hatte eine spezielle Form von Obrigkeit. Das waren die SED und die dazugehörigen Parteien und Organisationen. Aber auch diese Obrigkeit war nicht gottgegeben, sondern hatte sich selbst dazu gemacht. In Erinnerung bleibt, dass wir in diesem System als Gesellschaft manchen Entscheidungen tatsächlich machtlos ausgeliefert waren.

Ich möchte eine Debatte ansprechen, das Buch von Dirk Oschmann "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung". Es hat in den letzten Wochen viele Diskussionen ausgelöst. Seine These ist – ganz kurz zusammengefasst – dass sich der Westen bis heute als Norm definiert, als DIE Norm definiert, und der Osten eine Abweichung von dieser Norm bedeutet. Konkret lauten die Zuschreibungen für den Osten in dieser geballten westlichen Meinungsmacht: mangelndes Demokratieverständnis, Populismus, Rechtsextremismus.

Und als ob jemand diese Thesen hätte bestätigen wollen, war es dann einer der größten Medienmacher Europas und einer der mächtigsten Meinungsmacher, der dann die Zuschreibungen vornahm: "Die ossis werden nie Demokraten. Vielleicht sollte man aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn machen." oder: "Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht." Diese Vorurteile – beziehungsweise von diesem Mann waren es Urteile – werden also auch 33 Jahre nach der Friedlichen Revolution nach wie vor gepflegt und weiterverbreitet.

Wenn Oschmann mit dieser These – die ich jetzt verkürzt und zugespitzt wiedergegeben habe – Recht haben sollte, dann würde das nicht nur ein exorbitant schlechtes Licht auf den Westen werfen, sondern das würde auch besagen, dass sich die Ostdeutschen in eine Untertanenrolle gegenüber dem Westen haben drängen lassen. Insofern würde das untergegangene Herrschaftssystem noch weiterwirken.

Aber unsere Gesellschaft kennt keine Untertanen, weder selbsternannte noch welche, die von anderen dazu gemacht worden sind. Demokratie bedeutet Herrschaft auf Zeit von gewählten Repräsentanten, die im Bund, in den Ländern oder in den Kommunen Verantwortung tragen und sich auch dafür rechtfertigen müssen, die Entscheidungen treffen und sich dann dem Votum der Wählerinnen und Wähler stellen müssen und dadurch faktisch bewertet werden.

Und jetzt wird es aus meiner Sicht spannend: Da gibt es die einen, die mitreden wollen, mitentscheiden, mitgestalten. Die den politischen Repräsentanten die Entscheidungen nicht allein überlassen wollen. Dazu würde ich selbstverständlich auch die evangelische Kirche zählen, die sich immer auch demokratisch eingebracht hat. Von dieser Seite lautet die Kritik oft, dass die Politik nicht schnell genug entscheide, nicht weitreichend genug entscheide, dass sie schlichtweg falsche Entscheidungen trifft, dass sie manchen nicht zuhören würde. Es gibt aber auch diejenigen, die sich eher raushalten und Politik für etwas halten, mit dem sie selbst nichts zu tun hätten oder zu tun haben wollen. Da lautet die Kritik dann, dass "die Politiker" nur an sich denken würden, dass sie keine Ahnung hätten vom Leben der normalen Bürgerinnen und Bürger und sich schlicht dafür nicht interessieren würden.

Das heißt, zwei ganz grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, sich in einem demokratischen System zu bewegen. Entweder auf Augenhöhe in einer pluralistischen Gesellschaft, miteinander im Diskurs und das meint häuft das Ringen und Streiten miteinander um die beste Lösung oder "die da oben" zu kritisieren und sich ansonsten aus dem politischen System aber eigentlich rauszuhalten.

Auf die Oschmann-Debatte bezogen hieße das: Wer keine "westdeutsche Erfindung" sein will, sich dazu machen lassen will, der muss sich selbst ermächtigen und selbst beteiligen. Ich finde es gut, dass das Buch dazu ermutigt und dass es sehr interessante Debattenanstöße gibt.

Wir leben heute in Zeiten sehr großer Risiken und Herausforderungen. Die Welt ist schnelllebig geworden. Sie ist sehr kompliziert geworden, global gesehen, aber auch hier bei uns zuhause. Die Frage ist, ob wir diese Krisen im Obrigkeitsmodus oder im Beteiligungsmodus angehen wollen.

Wir wissen, dass autoritäre Staaten Entscheidungen schneller, klarer und einfacher treffen können. Ich bin nicht der Meinung, dass sie deshalb besser sind. Und ich bin der Meinung, dass kein Herrschaftssystem dieser Welt, kein Wirtschaftssystem dieser Welt und auch sonst niemand das Recht hat, die Schöpfung so auszubeuten, unsere natürlichen Lebensgrundlagen so auszubeuten, als gäbe es kein Morgen und als würden wir allein auf diesem Globus sein und diese Erde niemandem weiter überantworten müssen.

Gerade der Umwelt- und der Naturschutz sind aus meiner Sicht Bereiche, die für Beteiligung und fürs Mitdiskutieren ganz prädestiniert sind. Viele Entscheidungen werden auf kommunaler Ebene getroffen, sie werden dort von Gemeinden getroffen, in Beteiligungsverfahren, wie werden diskutiert, sie werden kritisiert. Die Lokalpresse ist voll davon. Fast jede dieser Entscheidungen kann beklagt werden, sehr viele werden beklagt. Deshalb glaube ich, wenn wir die Schöpfung bewahren wollen, dann brauchen wir das Ringen um den richtigen Weg, wie wir das machen können.

Die großen Krisen können mit einer Sehnsucht nach einfachen Lösungen oder nach Lösungen durch Dritte nicht bewältigt werden. Politik kann und muss den Rahmen setzen, um Strukturen zu verändern. Gute Politik sollte es jeder und jedem leicht machen, sich zu beteiligen und diese Entscheidungen umzusetzen. Mein Ansatz ist eine Politik, die sich definitiv nicht als Obrigkeit versteht. Politik muss sich erklären, Politik muss verstehen, Politik muss Fehler eingestehen können, Politik muss sich korrigieren können.

Wenn ich als Umweltministerin mit Ihnen über Umweltpolitik rede, dann wird es irgendwann auch sehr konkret. In Meinungsumfragen bekennen sich alle Menschen dazu, entweder die Schöpfung zu bewahren oder die natürlichen Lebensgrundlagen, die Klimakrise bewältigen zu wollen, Natur nicht ausbeuten zu wollen. Das sind Meinungsumfragen. Aber dann gibt es eben die konkreten Handlungen. Manche von Ihnen wissen vielleicht, dass ich mit Ernst Paul Dörfler, der hier vor einem knappen Jahr eine Kanzelrede gehalten hat, viel gesprochen habe über den richtigen Lebensstil und was jeder Einzelne tun und beitragen kann. Dabei geht es auch darum, sich selbst zu ermächtigen seinen Beitrag zu leisten und nicht im Verhältnis Obrigkeit und Untertan zu agieren. Er hat hier eine Rede gehalten über unseren individuellen Lebensstil. Immer wenn wir an diesem Punkt ankommen, dann wird es eher schwieriger als bei Meinungsumfragen.

Ich nehme mal ein Beispiel, das jetzt nicht ganz aktuell ist, das ist der sogenannte Veggie-Day gewesen. Eine Debatte, die uns bei Rot-Grün über Wochen und Monate fürchterlich erregt hat. Wo hoch und runter diskutiert wurde, ob uns die Obrigkeit den Bürgerinnen und Bürgern das Fleisch essen verbieten wolle. Der ganze Anlass war, dass ein Teil der Politik vorgeschlagen hatte, einmal in der Woche auf Fleisch zu verzichten. Das wurde zum Anlass für eine wochen- und monatelange Diskussion.

Und so stehen wir jetzt an der Schwelle, ob wir uns diesen ganzen Schwierigkeiten stellen wollen, in dem Verhältnis auf Augenhöhe die globalen Krisen und die lokalen Krisen unserer Zeit zu bewältigen. Vielleicht konnte man vor zehn oder vor zwanzig Jahren noch ignorieren und wegschauen, aber wenn ich gestern Abend meinen Garten gegossen habe und auf die Wetterprognose der nächsten zwei Wochen für unsere Region schaue, das kann man nicht mehr ignorieren, das geht nicht mehr.

Die Probleme haben sich in der Realität festgesetzt, sie sind da und sie werden uns dazu zwingen, gelöst zu werden. Auf die eine oder andere Art und Weise werden uns die großen ökologischen Krisen unserer Zeit dazu zwingen, dass wir Antworten geben. Ich will, dass wir das auf Augenhöhe tun, dass wir das demokratisch tun. Meine tiefe Überzeugung speist sich aus zwei Quellen: Zum einen aus dem unbedingten Wunsch, die Natur, unsere Umwelt, die Schöpfung, zu bewahren und zu erhalten. Das heißt nicht, dass wir sie nicht nutzen. Das bringt auch mit sich, dass es manchmal Schäden gibt. Aber das meint: Wir erhalten sie, für uns, für unsere Nachkommen und auch um der Natur selber willen. Diesen Anspruch, dieses Recht, hat die Natur. Meine zweite, tiefe Überzeugung ist, kein Mensch will Untertan sein, wenn er sich frei entscheiden könnte. Menschen wollen frei sein. Das ist die Ermächtigung, die wir uns 1989 genommen haben und mich prägen diese beiden politischen Überzeugungen zutiefst.

Die "Sehnsucht nach Obrigkeit", die wir heute spüren können in gesellschaftlichen Debatten, manchmal auch in der Schlange, wenn man im Supermarkt, in der Kaufhalle steht, man kann diese Sehnsucht nach Obrigkeit spüren. Aber ich verstehe den einen Teil dieses Gefühls. Es ist anstrengend, es ist so kompliziert, die Anforderungen sind so schwer verständlich. Man muss so viel wissen, um mitdiskutieren zu können. Man müsste viel mehr lesen, um über die Dinge mitreden zu können. Ganz ehrlich, auch ich mache abends mal eine Fernsehserie an und lese nicht mehr das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Den Impuls kennen, glaube ich, alle: Lasst mich auch mal einen Moment in Frieden mit den Problemen. Ich muss auch mal eine Pause haben. Das ist selbstverständlich ein richtiger Impuls. Aber es darf nicht dazu führen, dass wir der Sehnsucht nach Obrigkeit Raum geben und zu Untertanen werden.

Wenn wir in andere Länder unserer Welt schauen, dann ist das keine abstrakte Gefahr. In Zeiten, wo postfaktische Diskussionen auch im politischen Raum Einzug gehalten haben, wo Desinformation an der Tagesordnung ist, müssen wir auf unsere Freiheit, auf die Freiheit von Obrigkeit- und Untertanen-sein sehr, sehr sorgfältig schauen. Deshalb bin ich froh, heute mit Ihnen hier reden zu können, die Predigt zu hören und zu wissen, dass die evangelische Kirche bei der Freiheit ist und bei der Bewahrung der Schöpfung.

Vielen Dank.

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