Umweltministerin Steffi Lemke: "Neue Straßen können keine Priorität haben"

25.01.2023
Bundesministerin Steffi Lemke
Im Interview mit der Web.de-Redaktion spricht Steffi Lemke unter anderem über die Meilensteine der deutschen Umweltpolitik, den Straßenbau, das Artensterben, die Atomkraft und den naturverträglichen Ausbau der Erneuerbaren.

Web.de: Frau Lemke, der Begriff "Umweltschutz" wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. Zumindest stand er 1973 zum ersten Mal im Duden. Waren es gute 50 Jahre für die Umwelt?

Steffi Lemke: Wir haben etliche Meilensteine erreicht. Dazu gehört das engagierte Eintreten gegen das Waldsterben in den 80er Jahren. Der bekannteste Erfolg der Umweltpolitik ist sicher der Kampf gegen das Ozonloch. Um 1990 wurde mit FCKW ein Stoff weltweit verboten, der unser aller Existenz bedrohte. In Deutschland und Teilen Europas sind Mülltrennung und Recycling alltagstauglich geworden. Auch auf internationaler Ebene gab es große Meilensteine: mit den Nachhaltigkeitszielen von Rio de Janeiro, mit den Klimakonferenzen von Kyoto und Paris und zuletzt mit der Weltnaturkonferenz in Montréal.

Und das "Aber"?

Das Bedauerliche ist: Die Bedrohung muss offenbar oft schon fortgeschritten sein, bevor die Politik entschlossen handelt. Oder die Katastrophe muss schon da sein: Die Bundesregierung hat das Bundesumweltministerium 1986 als Reaktion auf die Atomkatastrophe von Tschernobyl gegründet. Ich bin überzeugt: Wir müssen Umweltschutz viel stärker nach dem Vorsorgeprinzip betreiben. Wenn die Weltbevölkerung wächst, müssen wir Rohstoffe effektiver nutzen und eine Kreislaufwirtschaft in Gang bringen. Es hat sich aber auch etwas getan: Umweltschützer wurden früher zum Teil verlacht und verspottet. Heute ist hingegen den meisten Menschen bewusst, dass der Erhalt unserer Ökosysteme die Voraussetzung für Wirtschaft und Wohlstand ist.

Allerdings polarisieren Umwelt- und Klimaschutz noch immer. Die Klimaaktivisten in Lützerath oder die Letzte Generation bekommen für ihre Aktionen nicht nur Applaus. Viele Menschen ärgern sich darüber.

Heute gilt, was schon zur Entstehungszeit des Umweltschutzes galt: Je größer die ungelösten Probleme sind und je kürzer der Lösungszeitraum ist, desto größer und lauter wird der Protest. Ich habe immer gesagt, dass Protest gewaltfrei sein muss und niemanden gefährden darf. Das ist mir wirklich wichtig. Aber ich sage auch: Wir werden einen Teil der jungen Generation verlieren, wenn wir ihre Interessen nicht stärker berücksichtigen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Der Schutz des Klimas und der natürlichen Lebensgrundlagen ist im Interesse der kommenden Generationen.

Sie haben den Kampf gegen das Artensterben ganz oben auf Ihre Agenda gesetzt. Dabei denken viele Menschen wohl zuerst an bedrohte Nashörner oder den Regenwald. Wie macht sich das Artensterben hier in Deutschland bemerkbar?

Wir haben einen dramatischen Rückgang, vor allem bei Insekten, aber auch bei Vögeln. Wir haben mittlerweile eine sehr lange Rote Liste gefährdeter Tier- und Pflanzenarten. Wer viel in der Natur unterwegs ist, bekommt das mit: Viele Arten, die man aus der Kindheit kennt, sieht man heute weniger oder gar nicht mehr.

Wo fällt Ihnen das auf?

Die Feldlerche ist so ein Beispiel. Die hat man früher auch als normaler Spaziergänger häufig gesehen und gehört – heute ist sie eine Seltenheit. Ob unsere Kinder das aber bemerken werden, ist eine andere Frage. Das Bewusstsein für Tier- und Pflanzenarten geht mit jeder verschwindenden Art weiter verloren. Das ist ein schleichender, fast unsichtbarer Prozess. Viele wissen zum Beispiel gar nicht, dass wir auch hier in unseren Meeren Korallenriffe hatten, die heute in weiten Teilen verschwunden sind. Am deutlichsten spürbar ist wohl der Verlust an Insekten. Im Alltag merken Sie, dass heute Windschutzscheiben nach dem Autofahren im Sommer viel sauberer sind als vor 20 Jahren.

Inwiefern betrifft das uns Menschen?

75 Prozent unserer Nahrungspflanzen sind auf Insekten als Bestäuber angewiesen. Wenn sie verschwinden, entsteht ein immenser Schaden für die Wirtschaft und für unsere Ernährung. Wir brauchen die biologische Vielfalt überall. In einem Teelöffel fruchtbarer Erde leben mehr Organismen als Menschen auf dem ganzen Planeten. Und jedes Kind weiß, wie wichtig fruchtbarer Boden für die Landwirtschaft ist.

Was ist Ihre Antwort darauf?

Wir müssen Naturkatastrophen besser vorbeugen. Intakte Ökosysteme liefern uns Sauerstoff, sauberes Wasser, Nahrungsmittel. Sie sind unsere Verbündeten gegen die Klimakrise und das Artenaussterben. Wir brauchen nachhaltige Landwirtschaft, nachhaltige Forstwirtschaft, wir müssen uns stärker pflanzlich ernähren. Die Natur braucht aber auch Rückzugsräume, in denen sie sich regenerieren und entwickeln kann. Ich stelle mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz vier Milliarden Euro in vier Jahren zur Verfügung, um Moore oder Auwälder zu renaturieren. Leider verlieren wir in Deutschland aber immer noch wertvolle Natur- und Ackerflächen – sei es durch Straßenneubau oder durch Industrie-Ansiedlungen.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing von der FDP will trotzdem den Bau von Straßen beschleunigen – und auch die SPD will Deutschland die modernste Verkehrsinfrastruktur Europas verpassen.

Es ist ja völlig klar, dass wir moderne Infrastruktur brauchen. Es ist aber auch klar, dass unsere gute Infrastruktur gerade im wahrsten Sinne zu zerbröseln droht – zum Beispiel die Autobahnbrücken. Die Priorität muss deshalb sein, vorhandene marode Brücken und Straßen zu erhalten und zu sanieren.

Neue Straßen sind aus Ihrer Sicht nicht notwendig?

Deutschland hat nach Japan das zweitdichteste Straßennetz auf der ganzen Welt. Neue Straßen können keine Priorität haben. Es werden sicherlich welche gebaut – da, wo zum Beispiel eine Ortsumfahrung dringend notwendig ist. Davon hält den Verkehrsminister niemand ab. Der Gesetzentwurf zum schnelleren Ausbau von Autobahnen und Fernstraßen wäre aber eine Achsenverschiebung. Straßenbau wäre dann wichtiger als der Erhalt der Natur und der Schutz der Menschen. Das geht in Zeiten von Klimakrise und Artenaussterben wirklich nicht.

Bei einem anderen Thema sind Sie kompromissbereiter: Einen massiven Ausbau der Wind- und Solarenergie trägt das Umweltministerium mit. Dabei greift man damit doch auch in Natur und Landschaft ein.

Der Ausbau der Erneuerbaren ist zwingend notwendig, um Klimaschutz voranzutreiben. Er muss aber naturverträglich stattfinden. Deshalb haben wir Hilfsprogramme aufgelegt, um besonders bedrohten Arten mit Schutzmaßnahmen zu helfen.

Wie genau sieht das aus?

Mit dem nationalen Artenhilfsprogramm werden wir Projekte fördern, die ganz konkret Vogel- und Fledermausarten helfen. Dafür stehen im Bundeshaushalt die Mittel bereit. Ich trage den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien mit, weil die Klimakrise die Natur ebenfalls bedroht. Der Harz ist in weiten Teilen massiv geschädigt. Auf dem Rhein musste in den zurückliegenden Sommern die Schifffahrt mehrfach eingestellt werden. Die Klimakrise bedroht auch die Natur. Wir wissen andererseits, dass die Natur uns vor der Klimakrise schützt. Deshalb müssen Umwelt- und Klimaschutz Hand in Hand gehen.

Die Union und die FDP sind dafür, die Gasförderung mit der Fracking-Technologie in Deutschland zu ermöglichen. Dabei wird ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien in Gestein gepresst, um Gas fördern zu können. Was halten Sie davon?

Fracking ist in Deutschland aus gutem Grund verboten, insbesondere weil es das Grundwasser gefährden kann und mit einem hohen Wasser- und Flächenverbrauch verbunden ist. Es hat eine lange gesellschaftliche Diskussion darüber gegeben – und die ist beendet, seit der Gesetzgeber Fracking 2017 verboten hat.

Allerdings importiert Deutschland jetzt Gas, das andere Staaten zum Teil durch Fracking gewinnen. Hier bei uns wollen wir diese Technologie aber nicht. Das ist doch moralisch fragwürdig.

Wir wollen es aber nur übergangsweise nutzen – als Resultat aus dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, um die Energieversorgung jetzt zu sichern. Ich sage aber: Wir sollten weltweit aus dem Fracking aussteigen, statt in Deutschland einzusteigen und solche Strukturen für die nächsten Jahrzehnte zu zementieren.

Die Ampel-Koalition hat im vergangenen Jahr über ein weiteres energiepolitisches Thema gestritten: Die Zukunft der drei letzten Atomkraftwerke. Rechnen Sie damit, dass die FDP die Diskussion über längere Laufzeiten erneut anstößt, bevor die Meiler im April endgültig vom Netz gehen?

Der Bundeskanzler hat diese Diskussion mit Zustimmung der Koalitionspartner beendet – also auch mit der der FDP. Wenn Deutschland jetzt neue Brennelemente beschafft, müssten sie über mehrere Jahre genutzt werden, damit sie sich rechnen. Was die FDP fordert, wäre ein Neueinstieg in die Atomkraft. Vielleicht geht es einfach darum, das Thema am Köcheln zu halten.

Auch hier stellt sich doch die Frage: Warum macht die Bundesregierung einerseits so viele energiepolitische Kompromisse, holt Kohlekraftwerke wieder ans Netz oder senkt die Hürden für den Bau von Flüssiggas-Terminals – aber am Ende der Atomkraftwerke hält sie so kompromisslos fest?

Wir lassen drei AKW dreieinhalb Monate länger laufen als ursprünglich geplant. Das ist ein Kompromiss. Neue Brennelemente würden aber für neuen hochradioaktiven Atommüll sorgen. Die Debatte über ein Endlager müsste neu geführt werden, es würden Mehrkosten auf die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zukommen. Atomkraft ist nicht billig, sondern eine teure Energieform. Der Wiedereinstieg würde den Ausbau der Erneuerbaren Energien blockieren. Und vor allem ist Atomkraft riskant. Wir hatten in der Vergangenheit ja nicht nur die Reaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima. In Forsmark in Schweden gab es 2006 einen Störfall, bei dem es zu einer Kernschmelze hätte kommen können. Und in der Ukraine werden Atomkraftwerke in den Angriffskrieg Russlands hineingezogen. Mit Atomkraft ist ein permanentes Risiko verbunden. Es zu verlängern, kann nicht die Lösung sein.

25.01.2023 | Medienbeitrag Verkehr
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