Wie kann es sein, dass Deutschland so spät informiert wurde, Frau Lemke?

19.08.2022
Steffi Lemke
Im Spiegel-Interview spricht Bundesumweltministerin Steffi Lemke über das Fischsterben in der Oder, warum Deutschland so spät informiert wurde und mit welchen Maßnahmen man die deutsche Natur schützen will.

SPIEGEL: Frau Ministerin, hier an der Elbe sind Sie aufgewachsen, welche Erinnerungen haben Sie an die Flüsse Ihrer Kindheit?

Steffi Lemke: Ich erinnere mich vor allem an die Mulde, die hier bei Dessau in die Elbe mündet. Da bin ich als Kind oft gewesen, mit meiner Mutter, meinen Geschwistern. Auf dem Wasser der Mulde schwamm Schaum. Je nachdem, was in Bitterfeld gerade in den Fluss geleitet wurde, schimmerte er in verschiedenen Farben. Und es hat gestunken! Man sagte, der Fluss sei biologisch tot.

Sie waren am Wochenende an der Oder und haben die Folgen der dortigen Umweltkatastrophe gesehen, die vielen toten Fische. Fühlten Sie sich an damals erinnert?

Ja, tatsächlich, das Bild des Flusses, mit zig tausenden toten Lebewesen, lässt mich an das viele Gift in den Flüssen meiner Kindheit denken. Wir wissen ja noch nicht, welches Ausmaß das Sterben noch haben wird. Etwa, wenn Vögel die verseuchten Fische fressen.

Sie haben die Verantwortlichen in Polen, von wo die Katastrophe ausging, scharf kritisiert. Was stört Sie?

Weil die deutsche Seite offensichtlich zu spät informiert wurde, ging wertvolle Zeit verloren. Diese Zeit fehlt jetzt: bei der Schadensbegrenzung, aber auch bei der Suche nach der Ursache.

Wie kann es sein, dass Deutschland als EU-Nachbar so spät informiert wurde?

Deutschland arbeitet in internationalen Flussgebietskommissionen mit. Darin gibt es Warn- und Alarmpläne mit festgelegten Meldeketten für solche Unglücke. Die polnische Seite hat den Alarmplan nicht rechtzeitig aktiviert. Schuldzuweisungen bringen aber nichts. Wir müssen dieses Unglück gemeinsam bewältigen.

Es gab aber auch Messungen in Brandenburg, die auf Unregelmäßigkeiten hindeuteten. Warum hat der Bund dann nicht reagiert?

Brandenburg ist für die Überwachung der Gewässerqualität in der Oder zuständig und wertet die Messergebnisse an seinen Messstationen aus. Als mein Ministerium von dem Fischsterben erfahren hat, haben wir sofort mit Brandenburg Kontakt aufgenommen und Unterstützung angeboten.

Fürchten Sie, dass die Menschen entlang der Oder, die tagelang verfaulte Fische eingesammelt haben, das Vertrauen in die Politik verlieren?

Ja. Diese Gefahr besteht, zumindest so lange keine Ursache und kein Verursacher benannt wird.

Letztlich haben Sie gegen die Verantwortlichen nichts in der Hand, darüber entscheidet man in Polen.

Das würde ich so nicht sagen. Wenn illegale Einleitungen auf polnischer Seite die Ursache sein sollten, sei daran erinnert, dass es auch in Polen rechtliche Vorgaben gibt, genauso wie auf europäischer Ebene. Heutzutage darf nicht jeder einfach in die Flüsse leiten, was er will. Da ist die Umweltgesetzgebung zum Glück weiter, als sie es damals in der DDR war.

Kommunalpolitiker entlang der Oder, etwa der Frankfurter Oberbürgermeister, fühlen sich von Ihnen im Stich gelassen. Was sagen Sie denen?

Dass ich diese Empfindung als eine erste Reaktion natürlich verstehen kann. Was soll man denn denken, wenn man bei sengender Hitze Tausende tote Fische aus dem Wasser holen muss? Bestimmt nicht, dass alle alles richtiggemacht haben. Als ich vom Ausmaß der Katastrophe erfahren habe, war mein Urlaub zu Ende, und ich habe über mein Ministerium an Unterstützung und Koordination organisiert, was ging.

Wie unterstützen Sie die betroffenen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg?

Wir haben uns Sonntagabend in Stettin mit meiner polnischen Amtskollegin und den beiden Umweltministern aus Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg getroffen und dort über weitere notwendige Schritte gesprochen. An dem Wochenende habe ich auch eine deutsch-polnische Expertengruppe initiiert, die von deutscher Seite vom Umweltbundesamt koordiniert wird. Am Mittwoch haben wir im Bundeskabinett besprochen, dass wir Hilfen für die von der Katastrophe betroffenen Betriebe auf den Weg bringen werden, wenn das nötig wird. Und wir unterstützen Brandenburg bei den laufenden Analysen zur Schadensursache über das Umweltbundesamt und über die Bundesanstalt für Gewässerkunde.

Wann rechnen Sie mit Ergebnissen?

Es wird mit Hochdruck daran gearbeitet, die Ursache der Katastrophe zu finden. Mehrere Einrichtungen arbeiten eng zusammen. Die Breitbanduntersuchungen in der Bundesanstalt für Gewässerkunde sind zum Beispiel sehr aufwändig. Von dort wird es Ergebnisse voraussichtlich bis Ende August geben.

Wie erklären Sie es sich, dass die Ursachenforschung schon so lange andauert?

Ich erkläre es mir so, dass man zum einen auf mehrere hundert Substanzen hin untersuchen muss und dazu noch andere Faktoren 

Die mehrfache Olympiasiegerin im Kajakfahren, Birgit Fischer, sprach einmal von der Demut, die einen das Paddeln gegenüber der Natur lehre. Hat Sie das Paddeln auch Demut gelehrt?

Die war vorher schon da. Meine Mutter war Biologielehrerin. Wir wohnten in einer engen Neubauwohnung, sie ging oft raus mit uns, an die Mulde. Das hat mich geprägt. Aber Sie haben schon Recht, beim Paddeln ist man sehr nah dran an der Natur. Es ist eine sehr unmittelbare Erfahrung, die einen erdet.

Als Ministerin werden Sie kaum noch zum Kajakfahren kommen.

Das stimmt. Paddeln steht in der Jobbeschreibung tatsächlich nicht mit drin. Aber im Urlaub vergangene Woche war ich abends mal draußen, mit einem SUP, einem Stand-up-Paddle. Das war schön. Wenn Sie jetzt mit mir ins Kanu steigen und gegen den Strom paddeln würden, dann würden wir da vorne an eine Stelle kommen, an der man auch Biber sehen kann.

Fast auf den Tag genau vor zwanzig Jahren war hier das Elbehochwasser. Es war Bundestagswahlkampf, der damalige Kanzler Gerhard Schröder hat die Wahl, so heißt es, nur gewonnen, weil er sich damals die Lage in Gummistiefeln anschaute und einen zupackenden Eindruck machte.

Ich erinnere mich genau an diese Tage. Schon in der ersten Hochwassernacht sah ich, wie die Mulde anstieg. Ich habe damals dann den Wahlkampf unterbrochen, wir sind Sandsäcke schleppen gegangen. Das hier war wie ein Meer. Wir mussten das Bootshaus meines Paddelvereins räumen, wie auch 2013, beim zweiten Jahrhunderthochwasser innerhalb von zehn Jahren.

Schröder wirkte damals so, als wäre alles hinzubekommen, wenn man nur tatkräftig hinlangt. Heute hat die Klimakatastrophe einen Punkt erreicht, dass sich vieles nicht mehr umkehren lässt. Was bedeutet das für Politik - die ja immer vermitteln muss, die Dinge wären handhabbar?

Dass sich die Politik ändern muss. Dass es eben nicht reicht, Bilder in Gummistiefeln zu machen. Wir spüren die Folgen von Klima- und Biodiversitätskrise auf so vielen Ebenen, gerade in diesen Tagen der Dürre. Wir müssen die Natur besser schützen, um uns zu schützen. Das ist auch bei den Leuten hier angekommen. Damals war das Bewusstsein für die Notlage sowohl in Politik als auch in der Bevölkerung nicht annähernd so groß wie heute.

Vizekanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock haben den Klimaschutz zu ihrer Sache erklärt - können Sie sich da noch durchsetzen?

Ich habe immer wieder gesagt, dass diese Bundesregierung Klimaschutz in Gänze betreiben will. Ihn wie früher einfach in ein Ressort abzuladen und dann zu schauen, was passiert - das geht nicht mehr. Im Umweltministerium liegt die Verantwortung für Klimaanpassung und Natürlichen Klimaschutz, und gerade in diesen Tagen merken wir doch alle, wie groß diese Aufgaben sind. Ich habe ein Vier-Milliarden-Euro-Programm für natürlichen Klimaschutz initiiert. Damit werden wir Wälder, Auen und Moore renaturieren. So machen wir unsere Landschaften widerstandsfähiger gegen die Klimakrise, speichern CO2 in der Natur und schaffen mehr Artenvielfalt. Eine Win-Win-Situation.

Trotzdem treibt nicht der Naturschutz, für das Ihr Ministerium jetzt steht, sondern die Klimakrise die junge Generation auf die Straße.

Da ist was Wahres dran. Aber man darf die Klimakrise und die Krise des Artenaussterbens nie gegeneinander ausspielen. Das Klima ist ohne eine gesunde Natur nicht zu retten. Naturschutz bedeutet so viel mehr, als den einzelnen Vogel zu schützen. Der aber eben auch dazu gehört.

Ihr Ministerium verlor die Klimaschutzabteilung, dafür bekamen Sie den Verbraucherschutz aufgedrückt, der im Justizministerium bisher ein Schattendasein fristete. Was wollen Sie aus diesem Thema machen?

Klimaschutz ist mit Klimaanpassung, Natürlichem Klimaschutz und übrigens auch mit Kreislaufwirtschaft im Umweltministerium verankert. Und dass Verbraucherschutz wichtig ist, liegt ja gerade jetzt auf der Hand. Reiserecht, Strom- und Gassperren, Abzocke im Internet, Kampf gegen irreführende Information. Verbraucherschutz umfasst so viele Themen aus dem Alltag von uns allen, zum Beispiel Digitalisierung, Mobilität, Energie, Finanzen. Ein Problem ist aber in der Tat, dass der Verbraucherschutz in der Vergangenheit häufiger das Ministerium wechseln musste und schon im Justizministerium viel zu wenige Ressourcen hatte.

Immer wieder geraten Sie bei Ihren Vorhaben mit der FDP aneinander, etwa, als Sie im EU-Umweltrat das Aus für den Verbrennungsmotor durchgesetzt haben. Jetzt fordert Verkehrsminister Volker Wissing eine Rheinvertiefung, was ein großer Eingriff in die Flussökologie bedeutete - und bekommt Zuspruch. Kommen Sie überhaupt gegen die FDP an?

Die Koalition treibt wichtige Projekte voran. Es ist gut, dass wir auf europäischer Ebene das Verbrenner-Aus beschlossen haben. Ich schätze meinen Kollegen Volker Wissing sehr. Auch durch seine Erfahrung als Winzer hat er ja einen engen Bezug zur Natur.

Landwirtschaftsministerium und Umweltministerium sind nun beide in grüner Verantwortung, und Sie müssen ausgerechnet mit Cem Özdemir zusammenarbeiten - Ihrem einstigen Widersacher in der Parteizentrale. Setzen Sie Ihre Kämpfe in neuen Rollen fort?

Mit der Amtsübernahme haben Cem Özdemir und ich gesagt, dass Umwelt- und Landwirtschaftsministerium jetzt endlich zusammenarbeiten müssen, Cem nannte es »Hausfreundschaft«.

Tun Sie sich schwer mit der neuen bleiernen Einigkeit Ihrer Partei? Die großen Konflikte, etwa zur Verlängerung der Laufzeiten werden auf dem kurzen Dienstweg ausgetragen.

Wir erleben eine Häufung von Krisen: Klimakrise, Artenaussterben, massive Umweltverschmutzung, Krieg, Pandemie. Das alles lässt keine andere Wahl, als sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Alles, was möglicherweise vor ein paar Jahren auch mal unterhaltsam gewesen sein mag, der Schlagabtausch, der das Publikum manchmal erheitert hat, das ist doch in einer solchen Krise alles vorbei. Wir können uns das Parteiengeplänkel einfach nicht mehr leisten.

Wenn aber die innerparteiliche Debatte ausbleibt, lähmt das die Demokratie.

Wir haben bei den Grünen sehr viele Debatten, die auch kontrovers geführt werden. Aber als Regierungspartei sind wir dazu verdonnert, am Ende Lösungen zu finden.

Gab es, wenn Sie zur Zeit der DDR hier am Fluss waren, Neugierde oder sogar Sehnsucht Richtung Westen. Wollten Sie mal sehen, wo die Elbe in die Nordsee mündet?

Die BRD oder der Westen war bei mir nicht direkt mit der Elbe verbunden, sondern mit Nürnberg, weil meine Omi, die Mutter meiner Mutter, in Nürnberg gelebt hat. Zweimal im Jahr durfte sie uns in Dessau besuchen. Ich habe sie sehr geliebt. Sehnsucht hatte ich eher nach dem Entdecken anderer Länder oder dem Meer. Dass wir als DDR-Bürger nicht reisen durften, wohin wir wollten, war bei der Friedlichen Revolution 1989 sicher auch ein Impuls. Aber auf die Strasse bin ich damals gegangen, weil ich Freiheit, Demokratie und ungefälschte Wahlen wollte.

Ihr Vater war Chemieingenieur. Im DDR-Regime war es nicht vorgesehen, über Umweltzerstörung zu sprechen. Welche Rolle spielte Umweltschutz bei Ihnen zu Hause?

Meine Mutter hat mir sicher ein Gefühl für die Natur gegeben. Da aber beide Eltern in der SED waren, gab es eher kontroverse Diskussionen, als ich mich als Jugendliche einer Bürgerinitiative und der Umweltbewegung anschloss. Für mich war im Herbst 89 auch schnell klar, dass es die grüne Partei sein muss.

Warum werden die Grünen im Osten tendenziell skeptischer gesehen als im Westen?

Wir haben dreißig Jahre lang sehr kämpfen müssen, die grünen Themen haben es im Osten immer noch schwer. Dass die Industriebetriebe nach der Wende geschlossen wurden und Tausende plötzlich auf der Strasse standen, teilweise auf Jahre ohne Perspektive, das hat den Osten über sehr viele Jahre dominiert. Da stand die Klimakrise nicht auf der Agenda. Die jetzt aber auch zur Bedrohung der Wirtschaft und von Arbeitsplätzen wird.

Sie haben den Beruf der Zootechnikerin gelernt, dazu gehörten Melken und Rinder züchten, also Fleisch, Milch und andere Tierprodukte erzeugen. Wie kam es dazu?

Das war keine freiwillige Entscheidung. Ich wurde nicht zum Abitur zugelassen, trotz guter Leistungen in der Schule. Die offizielle Begründung war, mein Berufswunsch sei nicht genug gefestigt. Das war aber vorgeschoben. Man hat die Gründe für eine solche Entscheidung nicht erfahren, vielleicht war ich zu wenig systemkonform. Dann hat mir die staatliche Berufslenkung die Ausbildung zur Melkerin nahegelegt. So lernte ich die industrielle Tierhaltung kennen. Mein Ausbildungsbetrieb wurde gleich nach der Wende geschlossen - wegen Chemierückständen in der Milch.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Fleisch? Sie sagten einmal, dass Sie im Wahlkampf gerne mal eine Bockwurst gegessen hätten. Tun Sie das immer noch?

Nein. Ich bin aber in einer Familie groß geworden, wo das gegessen wurde, was es in der Kaufhalle gab. Das hieß: wenig Auswahl an Gemüse, Obst und Käse, ganz selten Südfrüchte, viel Wurst. Ich ernähre mich inzwischen oft vegetarisch, im Sommer, wenn es sehr viel Gemüse und Obst im Garten gibt, auch vegan. Ich esse aber auch ab und zu Fleisch. Grundsätzlich denke ich, dass die Frage, wie wir das Klima und die Natur schützen wollen, deutlich über die individuellen Entscheidungen hinausgeht.

Viele junge Leute sehen das anders. Sie fragen sich: Wenn ich es nicht mache, wer macht es dann?

Das kann ich natürlich verstehen und es braucht Veränderung in den persönlichen Verhaltensweisen. Wir brauchen aber vor allem geeignete politische und ökonomische Rahmenbedingungen. Man hat viel zu lang versucht, die Krisen auszusitzen. Die Ampel-Koalition hat den Klimaschutz zur Priorität gemacht. Aber ich verstehe, dass manche junge Menschen gefrustet sind und sagen: Das geht alles viel zu langsam.

Sie blicken auf über fünfzig Jahre Leben an diesem Fluss zurück. Glauben Sie, dass man hier in 50 Jahren noch erträglich leben kann?

Ich gehöre zu der Fraktion, die sagt, dass wir jeden Tag daran arbeiten müssen, dass es so kommt. Dass wir auch in Zukunft auf einen lebenswerten Fluss schauen können, eine intakte Natur, Umwelt und Gesellschaft. Das ist mein Antrieb, danach richte ich mich.

Frau Lemke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

© DER SPIEGEL 34/2022, Ein Gespräch von Susanne Beyer und Serafin Reiber 

19.08.2022 | Medienbeitrag Naturschutz

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