Tihange und Doel
FAQs
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Das Bundesumweltministerium nimmt die Sorgen und den Schutz der Bevölkerung, insbesondere in der Grenzregion sehr ernst. Seit dem Wiederanfahren der beiden Reaktoren Ende 2015 hat es sich intensiv um eine engere Zusammenarbeit und einen besseren Informationsaustausch zwischen den Atomaufsichtsbehörden in Belgien und Deutschland gekümmert.
Am 19. Dezember 2016 haben die damalige Bundesumweltministerin Hendricks und der damalige belgische Vizepremier Jambon ein bilaterales Abkommen zur nuklearen Sicherheit unterzeichnet. Mit diesem Nuklearabkommen hat die bilaterale Zusammenarbeit eine neue – rechtlich bindende – Qualität erhalten. Es ist die Basis für einen verlässlichen Informations- und Erfahrungsaustausch sowie für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit, des Strahlenschutzes und der Sicherheit der Entsorgung von abgebrannten Brennelementen und radioaktiven Abfällen.
Insbesondere regelt das Abkommen die Einrichtung einer regelmäßig tagenden Deutsch-Belgischen Nuklearkommission (DBNK). Die DBNK hatte erstmals 2017 getagt und die Arbeit der 2016 eingerichteten deutsch-belgischen ad-hoc Arbeitsgruppe zur nuklearen Sicherheit fortgesetzt. Die DBNK, in der auch die angrenzenden Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz eng eingebunden sind, bildet eine verlässliche Grundlage für offene und kritische Diskussionen zwischen Deutschland und Belgien über alle Fragen der nuklearen Sicherheit.
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Unabhängig von der Bewertung durch die Reaktor-Sicherheitskommission ändert sich nichts an der grundsätzlich kritischen Haltung des Bundesumweltministeriums gegenüber alten Atomkraftwerken (AKW). Belgien hatte gesetzlich den Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahr 2025 beschlossen. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine und den damit verbundenen Diskussionen zur Energiesicherheit wurde politisch der Weiterbetrieb von Doel-4 und Tihange-3 beschlossen. Die restlichen fünf Reaktoren, insbesondere die befundbehafteten Reaktoren sollen auch sollen weiterhin abgeschaltet werden. Für Tihange-2 wird dies im Februar 2023 und für Doel-3 im Oktober 2022 erfolgen.
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Auf EU-Ebene ist rechtlich verankert, dass jeder Mitgliedstaat in seiner Verantwortung frei über den Energiemix in seinem Staatsgebiet bestimmen darf. Genauso wenig, wie es möglich ist, dass Belgien uns vorschreibt, Atomkraftwerke zu betreiben, kann Belgien von Deutschland oder der EU zur Stilllegung seiner Atomkraftwerke gezwungen werden.
Auch Genehmigungs- und Aufsichtszuständigkeiten bleiben auf Grund der klaren EU-rechtlichen Zuständigkeitsabgrenzungen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Eine Übertragung von Aufsichtskompetenzen auf die EU könnte zum einen lediglich mit der Einwilligung aller Mitgliedstaaten vorgesehen werden und würde zum anderen auch nicht sicherstellen können, dass dort deutsche Vorstellungen der Aufsicht und deutsche Standards zu Grunde gelegt würden. So bestünde auch das Risiko, die bisher bestehenden bilateralen Nachfragemöglichkeiten abzuschneiden, wenn eine europäische Institution bestimmen könnte, welche Sicherheitsanforderungen im Detail als ausreichend angesehen werden sollen.
Diese Feststellung ist für die Bundesumweltministerin Steffi Lemke gleichwohl kein Grund, untätig zu sein. Sie dringt darauf, dass bei dem Betrieb der belgischen Atomkraftwerke die höchsten Sicherheitsstandards eingehalten werden und dass es einen geregelten Informationsaustausch zwischen den Reaktorsicherheitsexperten beider Länder gibt. Auf EU-Ebene sind daneben unter dem EURATOM-Vertrag Regelungen zum Strahlenschutz und Regelungen zur nuklearen Sicherheit sowie zur nuklearen Entsorgung beschlossen worden. Die Regelungen zur nuklearen Sicherheit wurden nach der Katastrophe in Fukushima im Jahr 2014 überarbeitet und ergänzt, etwa um ein Sicherheitsziel, um ein System gegenseitiger Überprüfungen, sogenannter Topical Peer Reviews, sowie um Regelungen zum anlageninternen Notfallschutz. Die Richtlinien geben jedoch jeweils lediglich einen Rahmen vor, der in das nationale Recht umgesetzt werden muss. Dieser Rahmen bedarf aufgrund der vielen unterschiedlichen Reaktortypen und der vielen unterschiedlichen, zu adressierenden technischen Einzelthemen der Konkretisierung in nationalen technischen Vorschriften, deren Einhaltung durch die zuständige nationale Behörde überprüft werden muss. Hier setzt dann auch der bilaterale Austausch an.
In der European Nuclear Safety Regulators Group (ENSREG), einem Beratungsgremium der EU-Kommission, werden regelmäßig Sicherheitsfragen diskutiert. In der Vereinigung der westeuropäischen Atomaufsichten WENRA (Western European Nuclear Regulators Association) wird an hohen Sicherheitsstandards gearbeitet sowie an einem gemeinsamen Sicherheitsverständnis.
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Das Bundesumweltministerium ist weiterhin der Auffassung, dass der Atomausstieg in Deutschland nicht mit der Produktion von Brennstoff und Brennelementen für Atomanlagen im Ausland vereinbar ist. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und der angespannten Energieversorgungslage kommen jedoch derzeit konkrete Schritte, welche die Energieversorgung europäischer Nachbarstaaten erschweren oder gefährden, nicht in Betracht. Langfristig hält das Bundesumweltministerium jedoch an dem Ziel der Beendigung der Produktion von Brennstoffen und Brennelementen für Atomanlagen im Ausland fest und wird hierzu zu einem geeigneten Zeitpunkt unter Einbeziehung anderer betroffener Ressorts das weitere Vorgehen prüfen.
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Selbst wenn in Deutschland keine Brennelemente mehr produziert und von hier aus nach Belgien geliefert würden, hieße das nicht automatisch, dass in Atomkraftwerken (AKW) wie Tihange oder Doel der Betrieb eingestellt werden müsste. Auf dem Weltmarkt sind Brennelemente verfügbar. Wer in der politischen Debatte den Eindruck erweckt, man könne mit dem Stopp des Exports von Brennelementen aus Deutschland den Betrieb von AKW in Belgien verhindern, weckt Hoffnungen, die in Deutschland niemand erfüllen kann. Denn die belgischen AKW-Betreiber können sich die Brennelemente jederzeit auch außerhalb von Deutschland beschaffen.
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Wer sich für die Atomenergie entscheidet, muss sich den kritischen Fragen seiner Nachbarn stellen. Das gilt insbesondere für den Langzeitbetrieb älterer Anlagen, den die Ministerin für den falschen Weg hält.
Nach Auffassung des Bundesumweltministeriums ist die Durchführung einer grenzüberschreitenden Prüfung der Umweltverträglichkeit nicht nur dann Pflicht, wenn es um den Neubau von Anlagen geht. Sie ist auch dann verpflichtend, wenn die Laufzeit älterer Atomkraftwerke (AKW) verlängert wird. Denn erhebliche nachteilige grenzüberschreitende Auswirkungen können nicht nur aufgrund der Errichtung und des erstmaligen Betriebs eines AKW auftreten, sondern auch aufgrund des fortgesetzten Betriebs, der über die ursprünglich genehmigte Laufzeit eines AKW hinausgeht.
Gerade angesichts des alternden AKW-Bestandes in Europa und der zunehmenden Tendenz, Laufzeiten zu verlängern oder auch Leistungserhöhungen bis an die Grenze der technischen Machbarkeit zu gestatten, halten wir diese Debatte für sehr wichtig.
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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 29. Juli 2019 (Rechtssache C-411/17) festgestellt, dass die gesetzlich festgelegte Laufzeitverlängerung der beiden belgischen Atomkraftwerke (AKW) Doel-1 und Doel-2 nach der EU Richtlinie über Umweltverträglichkeitsprüfungen bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (UVP-Richtlinie) einer grenzüberschreitenden UVP bedurfte. Diese Position hatte die Bundesregierung auch in dem Verfahren vor dem EuGH vertreten.
Das Unterbleiben der notwendigen UVP hat nach Auffassung des EuGH nicht zwingend zur Folge, dass das belgische Gesetz, mit dem die Stromerzeugung durch die AKW Doel-1 und Doel-2 verlängert wurde, aufgehoben und der Betrieb eingestellt werden muss. Der Gerichtshof hat einen Weiterbetrieb aber an strenge Voraussetzungen geknüpft. Er ist auf den Zeitraum beschränkt, der absolut notwendig ist, um die fehlende UVP nachzuholen und eine Legalisierung herbeizuführen. Außerdem kommt ein Weiterbetrieb nur in Betracht, wenn die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr besteht, dass die Stromversorgung des Landes unterbrochen wird und auch keine Alternativen (zum Beispiel Zukauf von Strom im Rahmen des Binnenmarktes) zur Verfügung stehen.
Mit Urteil vom 5. März 2020 (Entscheid Nr. 34/2020) ist der belgische Verfassungsgerichtshof, der die Angelegenheit dem EuGH vorgelegt hatte, dem EuGH gefolgt und hat das Gesetz zur Laufzeitverlängerung von Doel-1 und Doel-2 aufgrund fehlender UVP für nichtig erklärt. Die obengenannten strengen Voraussetzungen, die der EuGH für eine Aufrechterhaltung der Gesetzesfolgen und damit einen Weiterbetrieb aufgestellt hat, bejahte der belgische Gerichtshof allerdings. Als notwendigen Zeitraum, um die UVP nachzuholen und somit eine Legalisierung herbeizuführen, benannten die Richter den 31. Dezember 2022.
Nicht geprüft und entschieden hat der EuGH, ob das Fehlen einer grenzüberschreitenden UVP einen Verstoß gegen die UNECE Espoo-Konvention darstellt. Das EuGH-Urteil konnte nicht unmittelbar auf die Espoo-Konvention übertragen werden, da die maßgeblichen Regelungen der UVP-Richtlinie und der Espoo-Konvention nicht deckungsgleich sind. Ob und unter welchen Voraussetzungen Laufzeitverlängerungen bei AKW nach der Espoo-Konvention einer grenzüberschreitenden UVP bedürfen, war in der Vergangenheit heftig umstritten. Bei der Espoo-Konvention prüfte eine Arbeitsgruppe unter Mitarbeit von fast 30 Ländern und Interessengruppen unter deutsch-britischem Co-Vorsitz diese offenen Fragen und verabschiedete nach einem Zeitraum von drei Jahren Ende 2020 einen Leitfaden. Der Espoo Leitfaden zu Laufzeitverlängerungen von AKW verfolgt einen pragmatischen Ansatz, um zu klären, ob und unter welchen Umständen Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung erfordern.
Deutschland forderte seit langem, substantielle Laufzeitverlängerungen von Atomkraftanlagen einer grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen, weil die Gefahren für die Umwelt bei einer weit über die ursprüngliche Betriebsdauer hinausreichenden Laufzeitverlängerung eines AKW ein Ausmaß umfassen, welches einer Erstinbetriebnahme einer Anlage gleichkommt. Das hat das Urteil des EuGH sowie die Verabschiedung des Espoo Leitfadens bestätigt. Laufzeitverlängerungen von AKW lehnt das Bundesumweltministerium entschieden als falschen Weg ab. Das Bundesumweltministerium wird sich auch weiterhin international dafür einsetzen, dass Laufzeitverlängerungen künftig zumindest einer grenzüberschreitenden UVP unterzogen werden.
- Meldung vom 29.07.2019: Stellungnahme des Bundesumweltministeriums zum EuGH-Urteil zu Doel