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Das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg

Seit seiner Gründung 1927 widmet sich das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg der Frage, wie Theologie und Naturwissenschaften in Einklang gebracht werden können. 1975 übernimmt der Theologe Peter Gensichen (1943 – 2019) die Leitung des Hauses. Es ist das Jahr der Versammlung des Weltrats der Kirchen in Nairobi, die "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" thematisch miteinander verknüpft. Unter Gensichen widmet sich das Forschungsheim vermehrt ökologischen Fragen und entwickelt sich zu einem wichtigen Zentrum und Impulsgeber der unabhängigen kirchlichen Umweltgruppen der DDR. Bereits 1976 bietet es die erste Weiterbildung für Pfarrerinnen und Pfarrer zum Thema Umwelt an. Ab 1981 finden hier Treffen der Vertreterinnen und Vertreter von Umweltgruppen aus dem ganzen Land statt. Der Ansatz, ökologische Fragen mit christlich-ethischen Überlegungen zu verbinden, gibt den Gruppen die Legitimation, sich unter dem Schutz der Kirche zu organisieren.

Das Forschungsheim hat nur wenig Beschäftigte, doch ab 1977 gründet sich unter seinem Dach eine Vielzahl von Arbeitskreisen. Hier werden Umweltdaten ermittelt, geprüft und kommuniziert. Mitglieder der Arbeitskreise sprechen auf Kirchentagen und entwickeln öffentlichkeitswirksame Aktionen. Ab 1980 veröffentlicht das Forschungsheim das Periodikum Briefe: Zur Orientierung im Konflikt Mensch Erde sowie eine Vielzahl von Überblicksdarstellungen und Studien.

Zwar widmet sich das Forschungsheim zunehmend brisanten ökologischen Fragen, aber es bemüht sich immer, den Bereich der Legalität nicht zu verlassen. Die Stasi eröffnet dennoch einen Operativen Vorgang. "Es war nicht gerade karriereförderlich, da zu arbeiten", erinnert sich die Naturwissenschaftlerin Rosemarie Benndorf. Sich im Forschungsheim einzubringen, stellen sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter aber nicht in Frage. Denn "entweder verklemmen wir uns jetzt im Leben, oder wir machen es so verantwortungsvoll, wie wir uns trauen", ist ihre Devise.

"In diese Richtung konnte man nicht länger weitergehen"

Rosemarie Benndorf zieht 1973 zieht nach Halle. "Unüberriechbar" ist hier das Umweltproblem, das im Chemiedreieck herrscht. Als Meteorologin kommt sie an Daten zur Luftverschmutzung, sie liest den Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit: Die Grenzen des Wachstums. Sie ist erschrocken und weiß zunächst nicht, wohin mit ihren Gedanken über die Umweltprobleme, derer sie mehr und mehr gewahr wird. Dann trifft Rosemarie Benndorf auf Peter Gensichen, der die Studierendengemeinde besucht, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für eine Arbeitsgruppe des Forschungsheims zu gewinnen. Keine Frage: Sie ist dabei. "Da war ich richtig erleichtert, dass ich endlich mal meine Sorgen abladen konnte und überlegen, was kann man überhaupt machen."

In einem interdisziplinären Arbeitskreis – von Psychologie, Biologie, Physik bis Theologie – schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten. Das Heft setzt sich mit dem Problem menschlichen Tuns und dessen Folgen für die Umwelt auseinander und listet konkret Aktivitäten auf, die von Einzelnen, Gruppen und Staat nötig wären, um diese Folgen abzumildern. Als Beispiele ziehen die Autorinnen und Autoren den Einsatz von DDT ebenso heran wie den Bau des Assuan-Staudammes oder das Artensterben. Sie stellen Wachstumsideologie und Wohlstandsdenken zur Diskussion – ob in kapitalistischen oder sozialistischen Industriestaaten. Die Gruppe kann sich nur in großen Zeitabständen treffen, ringt um eine Sprache jenseits der Fachjargons – es dauert. Doch am Ende halten die Mitglieder ein Werk in Händen, das in den kommenden Jahren viele Menschen inspiriert. Wie die Stasi in ihren Akten bemerkt, spiegeln sich Informationen und Argumentationen aus ihrer Schrift in manch einer Eingabe wider.

Screenshot des Titelblatts von Die Erde ist zu retten. Weitere Informationen siehe Bildunterschrift

Die Erde ist zu retten

"Was machen wir jetzt?"

Nach der Veröffentlichung stellt sich die Gruppe die Frage, wie sie weitere Kreise der Bevölkerung ansprechen kann. Das Ergebnis: die Ausstellung Mensch und natürliche Umwelt. Ab 1979 ist sie in Kirchen zu sehen, die touristisch interessant sind, um auch Menschen jenseits der Gemeindearbeit zu erreichen. 1980 gibt sie – gemeinsam mit einem Vortrag von Peter Gensichen – den Anstoß für die Gründung des Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke.

Auch mit anderen Aktionen suchen die Umweltakteurinnen und Umweltakteure des Forschungsheims, Menschen für ihr Anliegen zu gewinnen. Mit Erfolg: Rund um den 5. Juni, dem UN-Weltumwelttag, veranstalten sie ab 1981 gemeinsam mit örtlichen Umwelt- und Jugendgruppen das Umweltwochenende Mobil ohne Auto. Die Radtouren, Informationsveranstaltungen und Gottesdiensten sind landesweit gut besucht.

Mobil ohne Auto – gemessen an der Autodichte der DDR klingt eine solche Aktion zunächst erstaunlich. Doch sie entspricht dem konsumkritischen Ansatz des Forschungsheimes, das immer wieder die Verantwortung des eigenen Tuns thematisiert und Verzicht als eine ökologisch wie ethisch sinnvolle Handlungsoption begreift, ob mit Mobil ohne Auto oder Fastenmottos wie Sechs Wochen ohne Fleisch. Auf dem Kirchentag in Magdeburg 1983, erinnert sich Rosemarie Benndorf, lässt diese Kritik am Konsumverhalten in der DDR die Gäste aus Westdeutschland irritiert den Kopf schütteln. Doch sie ist heute noch überzeugt davon: "Wir hatten schon zu viel."

Bis Mitte der 1980er Jahre spielt das Forschungsheim für Weiterbildung und Vernetzung von Umweltakteurinnen und Umweltakteure eine zentrale Rolle. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts entstehen Gruppen, die zwar auch unter dem Schutz der Kirche agieren, den Staat aber offen herausfordern wollen. Ihr Lebensentwurf ist ein anderer. Das Spektrum des Protestes erweitert sich.

Interview mit Rosemarie Benndorf am 29. Juli 2020.

Natur- und Umweltengagement in der DDR

"Wir haben uns nicht versteckt"

Stand: 06.12.2021